„Alone In A World Of Wounds“ stellt große Fragen, die häufig verdrängt werden. Diese große narrative Kraft, lässt fast vergessen, dass STEVE VON TILL mit seinem siebten Soloalbum ein kompositorisch äußerst vielseitiges Werk geschaffen hat, das große Teile seiner bisherigen musikalischen Leistungen kohärent nebeneinander stellt.
STEVE VON TILL: Alone In A World Of WoundsWie ironisch ist doch die menschliche Existenz. Einerseits steht da diese große Entwicklung des Gehirns, was uns in nur wenigen tausend Jahren vom Nomaden zum Smartphonenutzer machte, zu Wesen, deren Lebensspanne sich von 35 Jahre auf fast 80 Jahre verlängerte. Die Spezies, die Krankheiten besiegt, Naturgesetze erkennt und beschreibt, zu Kunst fähig ist. Andererseits ist es auch die Spezies, die den Planeten ausbeutet, nicht über ein paar Jahre hinausdenken kann, den Klimawandel anheizt und leugnet, sich gegenseitig unterdrückt und umbringt. Das Großartige und das Schreckliche liegt so nah beisammen, dass einem Angst und Bange wird. Dabei wirkt es so, als wäre die Menschheit auf der Entwicklungsstufe von Kleinkindern, wahlweise auch Teenagern. Einerseits wissbegierig und liebenswert, andererseits grundlos destruktiv und durch und durch boshaft. Wer trägt Schuld, dass die Entwicklung in Teilen so gründlich schiefgegangen ist? Der Verfasser weiß es nicht,
STEVE VON TILL weiß es nicht. Deshalb spürt der
NEUROSIS-Frontmann auf seinem siebten Soloalbum „Alone In A World Of Wounds“ in diese Wunde hinein.
„The Corpse Road“ bringt gleich die zentralen Gedanken auf den Punkt: Eine Besinnung auf das Zentrum der Existenz. Was können wir erwarten vom Leben? Buddhisten sagen, Leben sei Geburt, Schmerz, Krankheit und Tod. Ergo die Textzeile: „The corpse road, our only birthright“. Dass sich das Stück mit flächigen Synthesizern wie aus dem Nebel erhebt, ist dabei kein Zufall: Der Verfasser, mit Brainfog durch das Leben mäandernd, wird sogleich auf das eingeschwungen, was zählt. Es geht zur Basis des Lebens, in der die Naturgesetze die Macht haben, nicht der Wille des Menschen. Dabei schlägt der Song stimmig die Brücke zu
„No Wilderness Deep Enough“: STEVE VON TILL bleibt auf seinem eher Ambient-basierten Weg, schichtet subtil Instrumente inklusive Cello und Horn aufeinander, schafft es aber, die großen Momente kompakt zu halten.
STEVE VON TILLs siebtes Soloalbum „Alone In A World Of Wounds“ schlägt eine Brücke zwischen Ambient und der Folk- und Americana-Vergangenheit des Künstlers.
In der Folge entwickelt sich „Alone In A World Of Wounds“ in verschiedene Richtungen. „Watch Them Fade“ basiert auf Piano und Cello und schafft trotz knapper Länge und klarer Songstruktur mit emotionalem Chorus einen großartigen Spannungsaufbau, inklusive etwas Wut – freilich nicht auf NEUROSIS-Level -, mit einer Klimax, die zumindest ein wenig Erlösung verspricht. Die Soundscapes von „Horizons Undone“ erzeugt eine Atmosphäre, die an
„The Eye Of Every Storm“ erinnert. Auch wenn der Song in der Strophe nur aus Gesang und Synthesizer besteht, hat er Power und wirkt treibend. Die Sensation folgt im Chorus: STEVE VON TILL experimentiert hier mit seiner Stimme. Das tiefe Brummen weicht einer Kopfstimme, und es steht ihm unwahrscheinlich gut. Der Effekt mag klein sein, es ist bezeichnend dafür, dass sich der Musiker Neues traut. „Alone In A World Of Wounds“ ist reich an derlei Details.
Auch „Distance“ schlägt die Brücke zur Vergangenheit: Die getragene Strophe erinnert an „Valley Of The Moon“ von
„A Grave Is A Grim Horse“ und ist das einzige Stück mit Drums. Wie ein Trauerzug fließt das Stück und hat auch und setzt Akzente mit einen Bläsereinsatz, der den Atem raubt. Mit dem knapp achtminütigen „Calling Down The Darkness“ schafft STEVE VON TILL den vielleicht berührendsten Moment in seiner ganzen Karriere. Das Stück verbindet seine neue Art des Ambient-Songwritings mit den folkigen Elementen der Vergangenheit am stimmigsten. Das Cello und der wundervolle Gesang rühren hier zu Tränen, das Finale, in dem Cello, Pedal Steel und Synthesizer zusammen arrangiert eine subtile Symphonie ergeben, geht tief ins Herz. Denn hier werden die Worte, die VON TILL singt, gelebt: „It is the nature of loss that binds is“, ist noch so eine Zeile, die sich einnistet. Manchmal wissen wir Menschen erst, dass wir zusammengehören im Angesicht von Trauer und Verlust. Und wenn diese unterschiedlichen Instrumente so stimmig harmonieren können, warum nicht auch die Menschheit mit all ihren unterschiedlichen Stärken?
Ein heilsames Werk: „Alone In A World Of Wounds“ steckt voller Kraft, gerade weil STEVE VON TILL eine kollektive Trauer heraufbeschwört.
Dass „Alone In A World Of Wounds“ es in der Folge schwer haben würde, diese Intensität zu behalten, scheint STEVE VON TILL zu wissen, deshalb nimmt das Album schließlich eine Wendung. „The Dawning Of The Day (Insomnia)“ als rezitiertes Gedicht mit stimmungsvollem Klavier und Cello wirkt frei und lebendig. Der größere Bruch kommt mit „Old Bent Pine“: Hier trifft STEVE VON TILL auf
HARVESTMAN, trippy Synthesizer und Delaygitarren umgarnen sich, der Gesang wird wie im Traum darüber gelegt. Ein schönes Stück, das dennoch im Vergleich zum restlichen Album ein wenig abfällt. Am Ende fängt sich STEVE VON TILL mit dem betörend schönen „River Of No Return“ indes wieder, selbst wenn es kein Happy End liefert. „Alone In A World Of Wounds“ ist ein Album, das Fragen über das Verlorensein aufwirft, und somit fühlt es sich am Ende auch an, als würde man alleine auf einem offenen Feld erwachen, an einem nebeligen Morgen, an dem noch nicht klar ist, ob sich die Sonne noch zeigen wird.
Es ist ein grausamer Witz: Die Götter gaben den Menschen das Feuer, um im Dunkeln zu sehen, auch wenn sie sich selbst damit auslöschten. Oder war und ist es gar die ultimative Prüfung? Was die Menschen auch erhielten, oder viel mehr selbst erfanden, war die Sprache. Es darf nicht vergessen werden, dass Musik ebenso ein Teil der menschlichen Sprache ist. Wie heißt es so schön: Man nicht
nicht kommunizieren.„Alone In A World Of Wounds“ ist ein Album, dessen Message auch klar wäre, hätte STEVE VON TILL es als Instrumentalwerk veröffentlicht. Sein siebtes Soloalbum zeigt ihn als gereiften Komponisten, der in der Lage ist, sich kurzzufassen, ohne an Intensität einzubüßen, im richtigen Moment aber loslässt und die bekannten epischen Momente erzeugt. Der Weg seit „No Wilderness Deep Enough“ wird dabei weiter beschritten, STEVE VON TILL vergisst aber auch nicht die Folk- und Americana-Basis seiner Soloarbeit. In beinahe jedem Song berührt der US-Amerikaner tief und stellt große Fragen. Wer sich ihnen stellt, könnte Trauer erfahren, aber auch die Hoffnung, dass es vielleicht noch die Chance gibt, mit den Sünden der Vergangenheit aufzuräumen. Beides ist gleichermaßen heilsam.
Wertung: 7 von 8 Wundversorgungen
VÖ: 16. Mai 2025
Spielzeit: 41:14
Line-Up:
STEVE VON TILL – Voice, Piano, Synths, Acoustic and Electric Guitars
Brent Arnold – Cello (Tracks 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8)
Randall Dunn – Synths (Tracks 1, 2, 3, 5, 7)
Eric David – French Horn (Tracks 1, 4)
Scott Evans – Synths (Track 2)
Luke Bergman – Bass (Tracks 3, 4), Pedal Steel (Track 5)
Ben Greenberg – Drums (Track 4)
Ben Chisholm – Field Recordings, Processing, Electronics (Track 5)
Dave French – Keys (Track 7)
Produziert von Randall Dunn
Label: Neurot Recordings
STEVE VON TILL „Alone In A World Of Wounds“ Tracklist:
1.
The Corpse Road (Official Video bei Youtube)2.
Watch Them Face (Official Video bei Youtube)3. Horizons Undone
4. Distance
5. Calling Down The Darkness
6. The Dawning Of The Day (Insomnia)
7. Old Bent Pine
8. River Of No Return
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