Empire State Bastard: Simon Neil und Mike Vennart im Interview zu "Rivers Of Heresy"Wir schreiben das Jahr 2009, Simon Neil und seine Band
Biffy Clyro sind gerade in New York, um ihr fünftes Album
“Only Revolutions” zu mixen, als der Sänger eine Eingebung hat:
Empire State Bastard! Der Name der Metal-Band, von der er und sein Kumpel
Mike Vennart, Sänger der Prog-Band
Oceansize, schon seit Jahren träumen, sollte Empire State Bastard sein. “Das kam durch so einen dahingesagten Kommentar über das Empire State Building – aber in dem Moment, in dem ich es aussprach, wusste ich: Das ist es!”, erinnert sich Neil. “Ich habe Mike sofort eine Nachricht geschrieben und meinte, ich habe einen Namen für unser Projekt. Mike und ich hatten schon länger im Kopf, mal ein wirklich extremes Album zu machen. Bei dieser Band passierte also alles rückwärts. Normalerweise fängt man an, Musik zu machen und dann ergibt sich der Rest – aber wir hatten erst den Namen, sprachen dann darüber, wie die Musik klingen soll, schrieben die Songs und gründeten dann die Band.”
Mit
“Rivers Of Heresy” erscheint nun das Debüt der Supergroup, die neben Neil und Vennart aus dem früheren
Slayer-Schlagzeuger
Dave Lombardo und der Bassistin Naomi Macleod von den irischen Alternative-Rockern
Bitch Falcon besteht. Vennart beschreibt es als die “giftigste, niederträchtigste Musik, die ich nur machen konnte, einfach ungefilterter Hass in musikalischer Form”, während Neil seine Texte als “misanthropischer und nihilistischer als alles, was ich bisher geschrieben habe” empfindet. Woher die ganze Wut? Dafür mussten Neil und Vennart nicht weiter blicken als vor die eigene Haustür.

Mike Vennart (l.) und Simon Neil sind Empire State Bastard (Foto: Connor Cockbain)
Rückblende: Die erste Begegnung von Neil und Vennart liegt 21 Jahre zurück. Die damals noch unbekannten Biffy Clyro haben gerade einen Plattenvertrag bei Beggars Banquet unterschrieben und Oceansize sind kurz davor, weshalb das Label ein gemeinsames Konzert der beiden Bands im Night & Day Café in Manchester organisiert. “Nicht nur musikalisch hat Mike mich umgehauen, sondern es steckte einfach eine Magie darin, wie er performte, Gitarre spielte und sang. Ich glaube, wir haben musikalisch ein bisschen miteinander geflirtet. Nach dem Motto: ‘Hmm, du bist gut in dem, was du machst’ und ‘Hmm, du bist auch gut’.” Neil grinst. “In dem Alter, mit Anfang 20, denkt man ja selten, dass irgendjemand anders gut ist. Man hält sich selbst für den Größten und denkt, die Welt hätte auf einen gewartet. Mike war der Erste, bei dem ich dachte, vielleicht ist da noch jemand anders, auf den die Welt gewartet hat.” Gemeinsame Touren – eine “magische Zeit voller Joints, Songs und Gigs”, wie Vennart es beschreibt – lassen die Freundschaft der beiden in den folgenden Jahren wachsen. Musik spielt dabei selbstverständlich eine elementare Rolle. “Ein großer Teil unserer Freundschaft war immer: zusammensitzen, Gras rauchen und einander verrückte Bands vorspielen”, erzählt Vennart.
Das gilt umso mehr, als die Trennung von Oceansize und der Wunsch von Biffy Clyro, ihren Livesound zu erweitern, Anfang der 10er Jahre dazu führen, dass Vennart als Tourgitarrist zur Band stößt. Die beiden haben Spaß daran, sich im Tourbus oder Backstage die härteste, avantgardistischste oder konfrontativste Musik vorzuspielen, die ihnen unterkommt. “Ich beginne meinen Tag gerne mit einer neuen Entdeckung”, so Neil. “Und ich habe das Gefühl, wenn man gleich morgens nach dem Aufstehen sehr intensive Musik hört, dann stimuliert es die Sinne auf eine andere Art und Weise. Vor allem, wenn man noch nicht mal den ersten Kaffee hatte. Ich mag es deshalb, die extremen Sachen morgens gleich als Erstes zu suchen.” Vennart nickt zustimmend. “Man kann nur Mitleid mit Leuten haben, die noch nie zum Sound der
Melvins gefrühstückt haben.”
Vier FrauenWenn es um Seitenprojekte geht, ist Simon Neil mehr als ausgelastet. Bereits 2005 gründete er gemeinsam mit JP Reid von der schottischen Band Sucioperro das Duo
Marmaduke Duke. Ihr drittes Album ist angeblich fast fertig und soll dann auch das Ende der Band markieren. Darüber hinaus arbeitet Neil an einem “Drone-Projekt” namens Tippie Toes, wo er ebenfalls genug Material für ein Album habe. “Biffy Clyro stehen immer ganz oben auf meiner Liste – aber ich muss Zeit schaffen für meine vier Frauen”,
sagte er dem britischen NME.Für Neil war es das 1997 veröffentlichte Album “El Diablo” der US-Metalcore-Band Will Haven, das die Tür zu Hardcore und Metal aufstieß. “Das brachte mich zum Label Revelation und Bands wie
Drowningman und
Deadguy, später dann auch zu
Converge,
The Dillinger Escape Plan und
Daughters, die in ihrer frühen Phase abgefahrenstes Zeug machten. Mein Leben war danach ein anderes.” Vennart derweil, der mit seinen 47 Jahren vier Jahre älter als Neil ist, stieg mit
Black Sabbath ein, die er durch seinen großen Bruder kennenlernte. “Als ich hörte, wie
Ozzy Osbourne in
‘Sabbath Bloody Sabbath’ ‘You bastards!’ schrie, hatten sie mich. Dann kamen
Iron Maiden und später als Teenager Bands wie
Slayer,
Faith No More und die
Cardiacs. Wenn ich Musik hörte, mit der ich jede Party leerkriegen konnte und bei der keiner meiner Freunde in der Nähe hätte sein wollen, wurde ich erst richtig neugierig. Ich weiß noch genau, wie ich das erste Mal Slayer hörte. Sie hatten einen Fernsehauftritt mit
“Hell Awaits”. Die Soundqualität war mies, aber ich konnte einfach nicht glauben, dass es eine Band gab, die so etwas machte. So schnelle und rasende Songs, völlig ohne Melodie, bei denen es schwer war, eine Struktur auszumachen. Wie kommen die darauf? Wie merken sie sich diese Songs? Und vor allem: Was bringt sie dazu, uns mit diesem Scheiß zu konfrontieren?”
Dampf ablassen
Es sind Fragen, die man nun an Neil und Vennart weitergeben kann, denn auch “Rivers Of Heresy” – das wie schon das
aktuelle Biffy-Clyro-Album von Adam Noble gemischt wurde – ist richtig harter Stoff. Vom aggressiven Opener
“Harvest” bis zum fast sieben Minuten langen Prog-Metal-Schlussstück
“The Looming” finden sich zweifellos Spuren der angesprochenen Bands. Es ist eine vielseitige Platte mit unterschiedlichsten Einflüssen. Grindcore trifft auf Thrash, Hardcore auf Sludge, aber auch ein Stilbruch wie in
“Stutter”, das in der zweiten Hälfte mit von Synthies unterlegtem Klargesang überrascht, ist erlaubt: eine Mischung, die genauso aufs Download oder Wacken passt wie auf das niederländische Roadburn. Oder wie Vennart es nennt: “Es ist ein Liebesbrief an die Metal-Helden unserer Jugend” – “Keiner aus meiner Familie oder von meinen Freunden mag dieses Album – und das ist völlig okay. Ich warte nicht darauf, dass irgendwer sagt ‘das ist aber ein guter Song'”, sagt Neil, dessen “Gesang” auf dem Album vielseitiger denn je ist und von giftigem Gekreische à la
Fantômas bis zu Death-Metal-Growls reicht. “Melodien haben wir bewusst vermieden. Diese Platte fühlt sich anders an als alles, woran ich zuvor gearbeitet habe – und genau darum ging es: Wir wollen kein Album machen, dass nur eine leicht andere Version dessen ist, was wir zuvor schon gemacht haben. Es sollte meilenweit davon entfernt sein.”
Der Traum vom gemeinsamen Album begleitete die zwei schon viele Jahre, doch während der Pandemie passt dann alles. Zum einen fühlen sie sich musikalisch bereit. “Zu einem früheren Zeitpunkt wären wir dem als Songwriter wohl nicht gewachsen gewesen und das Album wäre vermutlich oberflächlich geworden”, schätzt Neil. Zum anderen haben sie endlich genug Zeit und obendrauf die nötige Wut im Bauch. “Die Lage in der Welt ist derzeit komplexer, als wir es je für möglich gehalten hätten. Als wir alle zu Hause festsaßen, haben so viele Leute ihren Lebensinhalt verloren, und obendrein mussten wir mit dem Brexit klarkommen. Es ist einfach so bedrückend und omnipräsent”, sagt Neil. “Ich hätte gedacht, dass wir mit neuer Positivität und Geschlossenheit aus der Pandemie gehen, aber stattdessen sind wir direkt wieder in die nächste Krise gerutscht. Ich wollte deshalb ein Projekt, bei dem ich nichts als Gift ausspucke. Dieses Album ist ein aus Frustration geborener Krampf, wenn man so will. Bei Biffy Clyro steckt meist viel Liebe und Hoffnung in den Songs. Dieses Mal ging es mir darum, meine Ungläubigkeit über den derzeitigen Zustand der Welt auszudrücken. Es ist nicht so, dass ich Lösungen für unsere Probleme hätte, aber ich musste das einfach loswerden.”
»Man kann nur Mitleid mit Leuten haben, die noch nie zum Sound der Melvins gefrühstückt haben.« Mike Vennart
Ein Gefühl, das Vennart teilt. “Mit dem Brexit-Votum begann eine unglaublich ernüchternde Zeit in Großbritannien. Die Anzahl an Rechtsextremen und White Supremacists ist enorm gestiegen, und das beeinflusst auch die Tory-Regierung, unter der wir seit 13 Jahren leiden”, redet er sich in Rage. “Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Menschen zusammen, um das Gesundheitssystem zu gründen, sich umeinander zu kümmern und aufzuhören mit Kriegen und all dem Scheiß, aber jetzt sind wir an einen Punkt gesunken, an dem sich die Leute nicht mal dafür interessieren, dass der Planet kurz davor ist, in Flammen aufzugehen. Es besteht also nicht viel Hoffnung. Aber ich wollte nicht wehmütig jammern mit ein paar traurigen Songs in D-Moll. Ich wollte richtig Dampf ablassen!”
VennartNach der Auflösung von Oceansize gründete Mike Vennart gemeinsam mit seinem früheren Bandkollegen Richard “Gambler” Ingram zunächst British Theater, mit denen er zwei EPs und ein Album veröffentlichte. 2015 erschien unter dem Namen Vennart sein Solodebüt
“The Demon Joke”, gefolgt von
“To Cure A Blizzard Upon A Plastic Sea” (2018) und
“In The Dead, Dead Wood” (2020).
Den ersten Song schreibt Vennart nach einem besonders üblen Erlebnis Ende 2018, über das er selbst gar nicht viele Worte verlieren möchte, das im Internet aber dokumentiert ist. Am Manchester Piccadilly Bahnhof begegnet er damals dem britischen Rechtsextremisten und Anti-Islam-Aktivisten Tommy Robinson und sagt ihm ins Gesicht, er sei ein Nazi. Robinson filmt Vennart daraufhin mit seinem Smartphone und fordert von ihm Erklärungen für diesen Ausdruck. Das Video landet im Netz und Vennart erlebt einen Shitstorm sondergleichen, bei dem die rechte Szene ihn und seine Familie über Weihnachten mit Morddrohungen überhäuft. “Alles, woran ich denken konnte, war Musik”, erzählt er. “Ich blieb die ganze Nacht wach und entwarf den ersten Song, der auf unser Album kam.” “Tyred, Aye” heißt der Song, und auch wenn es auf dem Album in einer ganz anderen Version zu hören ist – nur Drums und Vocals, doch dazu später mehr – wurde er zur Blaupause für die Platte. “Schnelle, druckvolle Beats, Hardcore-Geschrei und die verheerendsten Riffs”, fasst Vennart zusammen.
Geht nicht gibt’s nicht
Die Entstehung des Albums läuft pandemiebedingt so, dass Vennart seine Songideen an Neil schickt, der sich dann um den Feinschliff und die Texte kümmert. Eine willkommene Abwechslung für Neil, der bei Biffy Clyro der alleinige Songwriter ist. “Ich hatte zu der Zeit das Gefühl, als hätte ich vier oder fünf Jahre nichts anderes gemacht, als Songs zu schreiben”, sagt er. “Erst hatten wir mit Biffy unser Soundtrack-Album
“Balance, Not Symmetry”, dann folgten
“A Celebration Of Endings und The Myth Of The Happily Ever After”. Ich sehnte mich nach einer anderen Art des Kreativseins und der Inspiration. Ich brauchte einen Impuls von außen. Jemanden, der mich stimuliert”, sagt er. “Wenn du selbst nach den Ideen suchst, musst du viel graben. Und je länger man Musik macht, desto schwieriger ist das, weil man ständig Sachen ausbuddelt, die man schon mal gefunden hat, und dann noch tiefer graben muss. Aber wenn dir jemand, der so talentiert ist wie Mike, Ideen und Konzepte präsentiert, ist es das reinste Vergnügen, sie zu dekorieren und ihnen die finale Ästhetik zu verpassen. Mike war so kreativ in der Zeit! Er schickte mir haufenweise Ideen. Ich versuchte dann eine Struktur in den Songs zu finden, ein paar Sachen rauszunehmen und andere zu wiederholen. Es war eine aufregende Arbeitsweise für uns beide. Mike gab den Songs ihre Grundform wie bei einer Skulptur, und ich kümmerte mich um die Details des Gesichts.”
Als die Demos für das Album dann fertig sind, stehen Vennart und Neil allerdings vor einer harten Aufgabe: Wer um alles in der Welt sollte die Drum-Parts einspielen? Beim Schreiben und Programmieren der Demos hatte Vennart ganz konkrete Parameter im Kopf gehabt: Auf den Bass-Kanal hatte er Shane Embury geschrieben, auf den Drum-Kanal
Dave Lombardo. “Jeder Drummer, dem wir die Demos zeigten, meinte zu uns: ‘Das kann ich nicht spielen!'”, so Vennart. “Wir steckten also in der Sackgasse, aber die Antwort starrte uns förmlich ins Gesicht.” Über einen gemeinsamen Bekannten kommen sie an Lombardos Mail-Adresse und schicken ihm die Demos. “Wir hatten ja keine Ahnung, ob er auf so etwas Lust hat. Spielt er nur mit Leuten, die er kennt? Kostet er eine Million?”, erzählt Vennart. Die Antwort lässt nur bis zum nächsten Morgen auf sich warten: Er sei dabei, schrieb Lombardo, und erkundigte sich direkt nach der Deadline.

Empire State Bastard (Foto: Gavin Smart)
Lombardo, der in seiner langen Karriere neben Slayer für Bands wie Fantômas,
Mr. Bungle,
Suicidal Tendencies und zuletzt
Testament gespielt hat, erzählte Jamey Jasta von
Hatebreed in dessen Podcast
“The Jasta Show” kürzlich, er habe sich schlicht in die Musik von Vennart und Neil verliebt: “Seltsame Tempowechsel, es ist ein bisschen thrashy, es steckt ein bisschen Grindcore darin. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist etwas ganz eigenes und hat seine eigene Persönlichkeit. Deswegen ist es schwer in Worte zu fassen. Aber es fährt musikalisch auf der harten Schiene. Als ich die Musik hörte, hat mich das umgehauen und ich sagte zu. Sie haben mir die Demos geschickt, ich habe die Drums in meinem Heimstudio aufgenommen und sie ihnen direkt zurückgeschickt.”
Doch damit nicht genug. Lombardo ist so sehr auf den Geschmack gekommen, dass er die Band auch live begleitet will. “Daves Engagement ist phänomenal”, bestätigt Neil. “Als wir im März in England unsere ersten Konzerte spielten, müssen das für ihn die kleinsten Shows seit Jahrzehnten gewesen sein. Für unsere Show auf dem Wacken im August kam er extra aus Amerika geflogen. Er hat das wirklich nicht nötig und verdient nicht viel Geld damit. Aber er macht es, weil er Musik liebt. Das ist eine große Inspiration für mich und Mike: dass jemand wie Dave Lombardo, der seit 40 Jahren Musik macht und in einigen der größten Metal-Bands der Welt gespielt hat, der das Metal-Drumming mit erfunden hat, sich in einen kleinen Van setzt und einfach losfährt. Da geht es nicht um Erfolg, Geld oder so. Er ist dabei, weil es ihm Spaß macht, und darum sollte es bei Musik und Bands doch gehen!”
Nicht zuletzt ist Lombardos Engagement die Bestätigung dafür, dass die Songs, die Neil und Vennart in großer Wut zusammengeschustert haben, wirklich taugen. “Jede Form von Angst, die wir in Hinblick auf was auch immer hatten, löst sich einfach in Luft auf, wenn wir mit ihm in einem Raum sind und seine Power hinter uns spüren”, so Vennart. “Er erhebt die Band zu etwas Größerem. Und er ist nicht nur eine Naturgewalt, sondern auch noch ein extrem netter, alberner und ausgelassener Typ. Jedes Mal, wenn ich darüber spreche oder nachdenke, dass Dave Lombardo in unserer Band spielt, kann ein Teil meines Hirns das einfach nicht glauben. Es geht über alles hinaus, was ich mir je hätte träumen lassen, und ich glaube, ich werde mich nie daran gewöhnen. Es ist einfach verrückt. Aber es beweist auch: Manchmal muss man einfach fragen. Man muss nur erst mal drauf kommen…”
Krieg und Frieden
Doch zurück zu “Rivers Of Heresy” und den Themen, die Neil in seinen so misanthropischen und galligen Texten behandelt. Und wenn er im Titel des Albums von “Ketzerei” spricht, welche Form meint er dann? “Mit Rivers Of Heresy spiele ich darauf an, dass die meisten Orte und Städte immer an Flüssen gebaut wurden, weil das die Lebenskraft ist”, erklärt er. “Heute habe ich das Gefühl, dass all diese giftigen Dinge unsere Lebenskräfte antreiben. Alles, was wir über Hunderte und Tausende Jahre gelernt haben, wird vergessen. Und das rührt daher, dass wir so leichtsinnig mit dem menschlichen Leben umgehen – erst recht wenn es um Menschen anderer Herkunft geht. Das sind für mich die “Rivers Of Heresy”. Im Grunde sind wir doch alle auf der Suche nach einem sicheren Ort zum Leben. Aber wie wir uns benehmen, widersprecht allem, was wir eigentlich tun sollten – nämlich einander zu helfen. Die Ketzerei, die ich beobeachte, richtet sich also gegen die Natur der Menschheit. Das war meine Idee hinter dem Titel und den Songinhalten.”
»Für neue Ideen musst du graben. Und je länger man Musik macht, desto schwieriger ist das, weil man ständig Sachen ausbuddelt, die man schon mal gefunden hat.« Simon Neil
“Dusty” etwa ist aus der Perspektive eines Mannes geschrieben, der in einer der Great Planes, der Großen Ebenen Amerikas lebt, die in den 30ern von Dürren und Staubstürmen betroffen waren. “Oft mussten ihre Familien sie verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen, aber der Mann blieb zurück und versuchte, sein Hab und Gut vor der Zerstörung zu retten”, sagt Neil. “Ich hielt das für eine gute Metapher dafür, was heute passiert, wenn Menschen sich auf tödliche Reisen begeben, um nach Deutschland oder Großbritannien zu kommen, damit sie arbeiten, Geld nach Hause schicken und ihren Familien helfen können. Nur sind es keine Naturkatastrophen, die sie stoppen, keine Staubstürme, sondern wir selbst. Regierungen und Menschen.” In “Sons & Daughters” indes beklagt Neil den Umstand, dass “Kids an die Front von Kriegen geflogen werden, von denen wir nicht mal wissen, warum sie gekämpft werden, und dort einfach als Kanonenfutter dienen. Krieg und Siege auf dem Schlachtfeld werden gerne als etwas Positives verklärt, aber in Wirklichkeit ist im Krieg jeder ein Verlierer. Jede Generation, die von Hass oder Krieg vergiftet wird, ist eine verlorene Generation – ob sie im Krieg fällt oder nicht. Patriotismus und eine Landesflagge über das Leben eines Menschen zu stellen, ist im 21. Jahrhundert nicht mehr zu rechtfertigen.”
Artwork 2.0Das Cover von “Rivers Of Heresy” stammt vom britischen Musiker, Radio-DJ und Illustrator Daniel P. Carter und enthält zahlreiche Symbole und Zeichen, die Zeilen aus den Songs aufgreifen. Inspirieren ließ er sich von Larry Caroll, der unter anderem das Artwork für das legendäre Slayer-Album “Reign In Blood” kreierte, aber auch vom niederländischen Maler Hieronymus Bosch. Der “Limited Edition” von “Rivers Of Heresy” liegt ein Fanzine bei, das weitere Arbeiten von Carter enthält.
Dem Thema Verantwortung hingegen widmet Neil sich in “Blusher” und “Moi”. Wenn er in Moi die Zeile “It’s always someone else’s fault” singt, meint er damit die Regierung, aber auch ganz normale Menschen. “Es scheint, als hätten die Leute Angst davor, zuzugeben, dass sie mit etwas falsch lagen”, so Neil. “Ich verstehe nicht, woher dieser Mangel an Entwicklung und Fortschritt kommt. Die beiden Songs handeln von diesen Menschen, die meinen, dass sie alles begriffen hätten, und es gibt nichts, was sie dazu bringen könnte, ihre Meinung zu ändern. Denn heute ‘denkt’ man nicht mehr, sondern man ‘glaubt’, und wie wir alle wissen, kann man den Glauben nicht in Frage stellen.“
Im bereits erwähnten
“The Looming” beschreibt Neil wiederum, wie wir mit großen Schritten aufs Ende der Welt zu marschieren. “Wir wachen einfach nicht auf und sind zu kurzsichtig”, sagt er. “Manchmal frage ich mich wirklich, was uns noch verbinden kann. Ich kann mir nur schwer jemanden vorstellen, dem es gelingt, die Menschen zusammenzubringen. Und wenn wir keinen Wandel in unserem Bewusstsein erreichen, stehen uns finstere Jahre bevor… Aber ich habe die Hoffnung, dass die Menschheit es schafft, dass der humanitäre Gedanke sich am Ende durchsetzt. Siehe Brasilien: Jetzt, wo etwa Bolsonaro nicht mehr im Amt ist, gab es in Südamerika gerade zum ersten Mal seit 70 Jahren ein Treffen diverser Regierungen, in dem es um die Rettung des Amazonas ging. Es haut mich zwar um, dass so viel Zeit vergangen ist, seit sie zuletzt darüber gesprochen haben, aber trotzdem – es ist eine kleine positive Nachricht in diesen dunklen Zeiten. Es wird auch spannend zu sehen, wie die Geschichte um Trump ausgeht. Und in England beginnen die Leute, gegen die Torys zu reagieren. Also man spürt schon Veränderung, und ich glaube, wir werden es schaffen. Müssen wir ja.”
Die Hoffnung ist also da – sie steckt nur nicht in diesem Album? “Genau, es ist ein bewusst hoffnungsloses Album, das aber hoffentlich nicht dafür sorgt, dass man sich so fühlt”, sagt Neil. Vennart ergänzt: “Ich finde sogar eher, dass es motivierend ist. Es sorgt dafür, dass man jemanden für diese Shitshow verantwortlich machen will.” – “Ganz genau”, so Neil. “Und dass man nicht bloß auf dem Arsch sitzt. Das Album spricht Themen an, die ich vorher nie angesprochen habe, und viel davon ist selbstmotivierend. Wenn man etwas am Klima ändern will, muss man halt auch etwas unternehmen. Klar hängt es nicht an uns als Individuen, aber jeder kleine Unterschied hilft weiter.”
In “Tyred, Aye” beschreibt Neil das Gefühl, müde zu sein, zwischenmenschlichen Kontakt nur noch online zu erleben. “Während der Pandemie habe ich gefühlt sechs Monate vor dem Computer verbracht. In einem Moment sprach ich mit Freunden, im nächsten promotete ich unser Album. Man kann das Gefühl der Verbundenheit durch den Computer zwar spüren, und es ist toll, dass das möglich ist – aber als es das Einzige war, das wir hatten, fühlte ich mich, als hätte ich ein Stück meiner Seele verloren.” Dass genau dieser Song die Sehnsucht nach Verbundenheit ausdrückt, ist fast ironisch, denn musikalisch unterstreicht er sie wie kein anderer. “Das war der erste Song, den Mike mir geschickt hat – und ich schickte ihn zurück ohne Gitarren”, sagt Neil und lacht. “Ich wollte immer schon mal einen Song nur aus Drums und Vocals machen und habe es im Laufe der Jahre ein paar Mal versucht, hatte aber nie zündende Idee dafür. In dem Moment, als ich den Rhythmus das erste Mal hörte, wusste ich, dass ich die Gitarren stumm schalten würde – und fühlte mich furchtbar. Ich dachte, Mike wird mich hassen dafür.”
Tat er aber nicht. “Das ist der einzige Song, den ich je geschrieben habe, auf dem ich nicht auftauche”, sagt Vennart grinsend. “Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte, aber die Wahrheit ist: Ich vertraue Simon blind.” – “Dieses intellektuelle, emotionale und musikalische Vertrauen ist wirklich schwer zu finden”, ergänzt Neil. “Und das ist auch ein Grund, warum dieses Album früher nicht hätte passieren können. All diese Jahre, die wir uns kennen, die guten und die schlechten Zeiten, die wir zusammen durchgemacht haben, stecken mit drin.” Auch deshalb ist Empire State Bastard für Neil und Vennart kein purer Zeitvertreib zwischen zwei Biffy-Clyro-Alben, ganz im Gegenteil: Ihr zweites Album ist schon in Arbeit. “Nächstes Mal schreibe ich dann einen zehn Minuten langen Drone-Track”, verspricht ein grinsender Vennart. “Ohne Gesang!”
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